Triggerwarnung In diesem Beitrag geht es um Angststörungen. Falls du dich mit dem Thema unwohl fühlst, lies dir den Text nicht durch.
Die Küche riecht nach Kaffee. Unter der Kaffeemaschine der Boden noch warm, die Maschine selber auch. Meine Schwester hat wohl Frühschicht. Die Zigarette auf meinem winzigen Balkon passt zum True-Crime-Podcast, den ich noch vom Abend übrig habe. Kalte Morgenluft umhüllt mich, ich presse den Kaffee an meine Brust, der Blick verfolgt die glühende Asche auf ihrem Weg zu Boden. Im Zug lausche ich, wie Slipknot von Gefühlen, von Staub in den Lungen und Blut auf Papier singt. Oder besser: stöhnt, aber niemand stöhnt so schön wie Corey Taylor. Im Büro dann Schokolade und nette Gespräche. Keine Meetings heute – ein guter Tag.
Dann kommt die Mittagspause. Und mit ihr die Angst. Als der Chef kurz nach elf meint: «Lasst uns heute gemeinsam Pizza essen», freuen sich alle. Ausser ich. Ich will heim, und zwar auf der Stelle. Pizza essen? Mit acht Menschen von denen ich eine Person noch nie gesehen habe? Niemals. Die Gedanken, die ich in solchen Momenten habe, sind immer gleich. Erst ein: «Nein, Scheisse». Dann ein «Ich kann das nicht» und schliesslich, immer wieder «ich muss nachhause, sofort».
Es ist also 11 Uhr und ich bin panisch. Sagen, dass ich allein essen will, geht aber auch nicht. Das wär unhöflich, denn eigentlich ist es ja sehr grosszügig, uns alle einzuladen. Meine Arbeitskollegen wissen von meinem Problem. Kaum hat also der Chef das Büro verlassen, drehen sie sich zu mir um. Mitleidige Blicke, Fragen, ob alles okay ist, ob sie etwas tun können. Das ist nett, hilft aber nicht. Denn natürlich können sie nichts tun. Was auch? Sich als Schutzschild vor mich stellen, damit ich mich nicht beobachtet fühle? Eben.
11:25 Uhr und ich versuche, mich zu konzentrieren. Essen ist erst um 12 Uhr. Doch in meinem Kopf spielen sich Horrorszenarien ab. Und gleichzeitig finde ich mich selbst gerade unfassbar lächerlich. Wieso kann ich nicht einfach dankbar sein? Mich über Pizza, die ich sonst liebe, freuen? Wann werde ich endlich erwachsen, verdammt? Und gibt’s nicht irgendeine Pille, die ich nehmen kann, damit ich normal bin? «Ich kann das nicht. Alles.»
11:30 Uhr, der Countdown ist unerträglich. Ich wünschte, es wär bereits vorbei. Das Schlimmste ist, dass es nie so schlimm ist, wie ich befürchte. Grundsätzlich weiss ich ja, dass meine Ängste unbegründet sind. Aber ich kann absolut nichts dagegen tun. Okay, doch. Ich habe eine kleine «Skill-Tasche», wie es in Psychologendeutsch so schön heisst. Da sind Dinge drin, die mir in solchen Situationen helfen können. Am besten hilft ein Pfefferminz-Riechstift. Der ist extrem scharf und unterbricht das Gedankenkarussell kurzzeitig. Rieche ich daran, kann ich einige Sekunden klar denken und mir die nächsten Schritte überlegen. Nur habe ich den natürlich nicht dabei. Und es wäre ja auch seltsam, wenn alle essen, ich mir aber unaufhörlich dieses grüne Ding in die Nase ramme, als wäre ich nicht ganz beisammen. Bin ich ja auch nicht. Müssen aber nicht alle wissen.
11:45 Uhr. Es wird immer schlimmer. Arbeiten kann ich nicht mehr, das Zittern ist zu stark. Das Lustige: Ausser mir merkt das nie jemand. Ich bebe vor mich hin und wenn ich das anspreche, kommt vom Gegenüber verlässlich ein «ist mir gar nicht aufgefallen». Ich habe das Gefühl, in mir wütet ein Erdbeben der Stärke 10 und du bemerkst das nicht? Really?! Was ist los mit dir? Oder besser: Mit mir? Warum kann ich das nicht? Warum muss ich aus allem so ein Drama machen? Ich fühle mich so unglaublich schwach. Und undankbar. Und komisch. Ich bin komisch und meine Ängste unbegründet und ich sollte mich zusammenreissen. Meine Basis chillen. Mich entspannen. Aber ich kann nicht. «Ich kann das alles nicht.»
Uhr. 12 fucking Uhr und das Schlimmste kommt erst noch. Ich schwitze und zittere und bin fertig. Und wir haben noch nicht mal gegessen. Und die Pizza ist auch noch nicht da. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist. Und ich habe Hunger. Ich frühstücke nicht, weshalb mein Magen verlässlich um 12 Uhr knurrt, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen. Ich will rauchen, kann aber nicht, denn die Pizza kommt partout in dem Moment, in dem ich meine Kippe anzünde. Also sitze ich auf meinem Bürostuhl und treibe mich auf Twitter rum. Dann ist sie da, die Pizza.
12:05 Uhr. Langsam laufen alle in den Konferenzraum. Ich habe verpennt, meine Wasserflasche aufzufüllen. Egal, dann trink ich halt nach dem Essen. Wenn ich sie jetzt auffülle, komme ich zu spät und alle müssen auf mich warten und schauen mir beim Betreten des Raumes zu. Wo soll ich mich hinstellen? Neben den Chef? Auf keinen Fall. Stehe ich aber nicht neben ihm, stehe ich vor ihm und das geht auch nicht. Bei der Tür. Dann kann ich raus, falls es wirklich nicht geht. Würde ich natürlich niemals tun. Ich rieche die Pizza und habe schlagartig keinen Hunger mehr. Ich fühle mich so voll wie nach dem Weihnachtsessen bei meinen Eltern. Nur ohne Wein. Leider.
Fuck, ich bin schon fast fertig mit dem ersten Stück. Das ging schnell, vielleicht zu schnell? Alle anderen sind noch an ihrer ersten Portion. Okay, dann warte ich. Oder ist das komisch? Wenn alle essen nur ich nicht? Da, mein Arbeitskollege nimmt sich das zweite Stück. Ich warte noch zwei Minuten, sonst wirkt es so, als würde ich ihn nachahmen. Scheisse, die Pizza ist verdammt scharf. Und ich habe kein Wasser. Aber holen geht jetzt auch nicht. Jetzt den Raum zu verlassen wär unhöflich. Obwohl: Gehe ich jetzt schnell, kann ich die Tür beim Zurückkommen offenlassen. Irgendjemand hat sie nämlich zugemacht und ich finde das gerade sehr beängstigend.
Da schaut mich jemand an. Habe ich etwas falsch gemacht? Komisch geschaut, zu laut geatmet? Bemerkt sie das Zittern? Oder wie ich erröte? Aber vielleicht sieht sie gar nicht mich an? Soll ich nochmal ein Stück nehmen? Ich mag eigentlich nicht, aber wenn ich nicht mehr esse, falle ich nachmittags vielleicht in Ohnmacht. Und das wäre auch peinlich. Also noch ein Stück. Aber welches? Kann ich nochmal Diavolo nehmen oder wirke ich dann langweilig? Egal, ich nehme einfach nochmals die. Die anderen Pizzaschachteln stehen eh so auf dem grossen Tisch verteilt, dass ich nicht rankomme. «Janine, gibst du mir mal bitte das Messer?»
Was? Scheisse, wer braucht das Messer? Ich schaue mich im Raum um, versuche zu ermitteln, von wem die Bitte kam. Fuck, keine Ahnung. Gefühlte Stunden stehe ich verloren da, schaue blöd aus der Wäsche und weiss nicht, was ich tun soll. Welches Messer überhaupt? Ach, das da vor mir. Und wer braucht es? Neben mir bewegt sich mein Arbeitskollege. Ich strecke die Hand aus, ziehe sie aber blitzschnell wieder zurück. Er ist schneller. Nimmt das Messer, gibt es der Kollegin gegenüber. Mann, so einfach kann es sein. Und trotzdem schaffe ich nicht mal das. Ich lächle entschuldigend. Dümmlich. Hat das jemand mitbekommen? Denken jetzt alle, dass ich unhöflich oder überheblich bin? So im Sinn von: «Nimm dir dein Scheiss-Messer doch selber, ich bin nicht deine Assistentin?» Mist. Also, soll ich jetzt noch ein Stück nehmen oder nicht? Es ist schon zu viel Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Stück vergangen. Aber jetzt greift der Chef nach der Pizza und wenn ich das auch tue, berühren sich unsere Hände vielleicht. Brr. Da! Er greift nach Funghi. Jetzt Diavolo nehmen, schnell.
Kann ich auf die Uhr schauen? Oder wirkt es dann, als wäre ich ungeduldig? Egal. Oh, erst fünfzehn Minuten vergangen?! Scheisse, das heisst, dreissig liegen noch vor mir. «Ich kann das alles nicht.» Immerhin sind die Pizzakartons fast alle leer. Es muss ja irgendwann vorbei sein. Es muss einfach. «Und, wie läufts mit deinem Projekt?» Ich zucke leicht zusammen. Denn ich habe etwas im Mund und werde etwas gefragt. Horror. Soll ich gleich antworten oder zuerst fertig kauen? Mit vollem Mund spricht man nicht, klar, aber wenn ich zu lange warte, ist das auch peinlich. Ich entscheide mich für einen Mittelweg, schlucke die Hälfte runter, halte mir die Hand vor den Mund und antworte. Mann, war das Scheisse. Das nächste Mal schlucke ich alles zuerst runter. Ich schaue weg, damit er nicht weiterredet, aber es ist ihm offenbar egal. Immer dann, wenn ich abbeisse, fragt er mich etwas. Macht er das mit Absicht? Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre. Ich muss hier weg, sofort.
12:45 Uhr. Das Mittagessen ist beendet. Endlich. Heute Abend im Bett werde ich daran zurückdenken und mich fragen, was eigentlich mein Problem war. Was mein Problem ist. Aber erst muss ich darüber nachdenken, was ich alles falsch gemacht habe. Die Sache mit dem Messer zum Beispiel. Und das mit dem Sprechen. Meine Kehle brennt von der scharfen Pizza, ich habe Durst und bin nassgeschwitzt. Also, zuerst auf die Toilette, Wasser trinken, dann rauchen, dann Kaffee. Immerhin kann ich wieder einigermassen klar denken jetzt. Meine Arbeitskollegin begleitet mich zum Rauchen, obwohl sie Nichtraucherin ist. Sie brauche frische Luft, sagt sie, aber ich glaube insgeheim, dass sie mich einfach nicht alleine lassen will. Süss, irgendwie.
Draussen fragt sie, ob alles okay ist. Und sie sagt, dass sie Essen im Stehen auch unerträglich findet. Das tut mir gut. Und jetzt rede ich. Darüber, wie schwer mir das fällt. Und wie sehr es mich aufregt, dass es das tut. Sie hört zu und nickt und ich fühle mich etwas besser. Die frische Luft und das Nikotin und ihre Stimme. All das beruhigt mich ein wenig. Als ich zu frieren beginne, gehen wir wieder nach oben. Es ist 13 Uhr und es ist vorbei. Jetzt Kaffee. Danach geht’s wieder. Ganz bestimmt.