«Atmen, nicht denken», geht mir durch den Kopf, während ich voller Panik bin. Atmen, nicht denken. Ein Satz mit schönem Rhythmus, irgendwie tröstlich, irgendwie unsinnig. Unmöglich. Denn nicht denken geht nicht. So wie nicht fühlen. Ich muss denken, muss fühlen, auch wenns nur kalte Angst ist. Kann’s nicht abstellen. Kann nicht aufhören, den Satz zu wiederholen, der mich statt «atmen, nicht denken», verfolgt . «Nicht lebensfähig», hämmert es in meinem Kopf, immer wieder, ohne Pause. «Ni-cht le-bens-fä-hig», kritzle ich in mein Notizbuch.
Jeder Herzschlag eine Silbe, jeder Atemzug von neuem. Glassplitter in der Seele, als würde das eine mir nahe stehende Person zu mir sagen. Mit bösem Grinsen. Leichtes Kopfschütteln, Enttäuschung, vielleicht Wut. Vor allem aber: Häme. Mir selbst gegenüber. Darüber, dass ich so niedlich überzeugt davon war, alles doch noch irgendwie hinzukriegen. Dass ich mir ernsthaft vorgemacht hatte, alles im Griff zu haben. Lachhaft. Und dämlich. Und am schlimmsten: naiv. «Nicht lebensfähig».
Laut, immer eindringlicher. «Ja, okay, ich hab’s verstanden, verdammt! Aber was soll ich tun? Ich bin ja doch hier», denke ich, will ich sagen, schreien, aber das bringt nichts. Die Stimme in meinem Kopf hat noch nie Antworten gegeben. Sie verurteilt nur. Heimlich, aber eindringlich. So, als würde es irgendwas ändern. Nur tut es das eben nicht. Niemals.
In der Therapie habe ich gelernt, den Stimmen, nennen wir sie «Persönlichkeitsanteile», klingt nicht ganz so schizophren, ein Gesicht zu geben. Mein «innerer Kritiker», wie mein Psychiater zu sagen pflegte, ist eine alte, bucklige Frau. Eine mit faltigem Gesicht, Stock und Schürze. Eine die ständig nörgelt. Aber das, das hier, diese Stimme, ist eine andere. Es ist nicht sie, so boshaft ist sie nicht. Es ist… dunkler. Bedrohlich fast. Nur selten da, etwa einmal im Monat. Aber wenn, dann richtig. Und es trifft immer. Wie ein Dämon versteckt es sich tagsüber, kommt nur abends oder nachts. Dafür umso lauter. «Atmen, nicht denken». «Nicht lebensfähig.»
Nicht gemacht dafür, zu schwach, zu traurig, zu sensibel. Zu sehr ich. Zu wenig die, die alle stattdessen wollen. Und ich selbst ja auch. Jemand anderes sein, das wärs. Ein anderer Mensch, weniger zerbrechlich, weniger kaputt. Jemand, der alles im Griff hat, weiss was er will. Und das auch aussprechen kann. Jemand der, nun ja, lebensfähig ist. «Nicht so wie du», spuckt es mir entgegen. Ganz genau. So jemand.
Druck auf der Brust, ein Kloss im Hals, gegen den auch der Primitivo nichts auszurichten vermag. Ausser, dass es immer lauter wird. «Ni-cht le-bens-fä-hig», immer wieder, ohne Unterlass. Der Kopf dröhnt, die Augen tränen, die Nase läuft. «Sei endlich still! Bitte! Was willst du? Was kann ich tun?» Wieder vergebens. So wie alles andere.
Das Einzige, was diesen Dämon in mir vertreibt, ist Schlaf. Ich lege mich abends hin und am Morgen ist Ruhe. Um mich herum und in mir drin. Es ist dann so, als wäre es nie da gewesen. Und genau das macht es so gefährlich: Ich vergesse, dass es je da war, mache weiter wie bisher. Wähne mich in Sicherheit. Bis es wieder Futter findet und zurückkehrt. Sich anschleicht, Stunden dunkel macht und meinen Körper kalt.
Und am Morgen blättere ich. Vielleicht kann das auch eine Waffe sein. Denn schwarz auf weiss ist nicht unsichtbar.