Triggerwarnung In diesem Beitrag geht es um Angststörungen. Falls du dich mit dem Thema unwohl fühlst, lies dir den Text nicht durch.
Schon im Auto geht es los. Da ist dieses Kribbeln. Ganz tief, irgendwo in der Brust, vielleicht auch im Magen. Anders als sonst. Stärker, irgendwie endgültig.
«Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.»
Die rothaarige, bebrillte Deutschlehrerin zwang uns in der Oberstufe den Erlkönig auf. Da ich ihn nie vergessen konnte, nutze ich das Gedicht seither, um mich von der Angst abzulenken.
Als wir im Restaurant sind, erfasst mich das Grauen. Langsam, wie eine Schlange, die in mir hochkriecht. Erst die Füsse, dann der Bauch, die Arme, die Hände, alles kalt. Nur mein Kopf, mein Gesicht, ist heiss. Werde ich gerade rot? Merken mir die anderen etwas an? Und können wir uns verdammt nochmal endlich hinsetzen? Keine Chance. Menschen begrüssen. Lächeln, nicken, «schön, dich endlich kennenzulernen», «ja, hat ja gedauert, wegen Corona und so, haha, aber jetzt bin ich ja da, was für ein Glück.» Ja, was für ein Glück. Haha.
«Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.»
«Atmen», sage ich mir, «du hast das in der Therapie vorbereitet, alles wird gut». Mein Sitzplatz ist in der Mitte an der Wand. Nichts wird gut. Wenn ich raus will, muss ich mich erst hinter allen durchzwängen.
«Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?»
Ja, warum habe ich eigentlich solche Angst?
«Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?»
Ein Blick in die Speisekarte erinnert mich daran, dass ich in Italien bin. Fuck, ich versteh gar nichts. «Magst du die Karte übersetzen?», frage ich meinen Freund leise. Zu leise, er hört mich nicht. Seine Schwester schon. Geduldig sagt sie mir, was es gibt. Gedanklich streiche ich durch, was ich nicht essen kann. Es ist viel. Eigentlich bleibt nur ein Gericht übrig. Immerhin, dazu gibt es Pommes, die gehen meistens.
«Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?»
Warum bemerkt mein Freund nicht, dass ich Hilfe brauche? Seine Cousine schräg gegenüber von mir scheint etwas zu ahnen. Ich mag sie sehr, habe aber auch irgendwie Angst vor ihr. Sie ist perfekt und ich bin, naja, ich halt. Und genau deshalb soll sie nichts merken.
«Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.»
Ich muss hier raus. Ich kann das nicht. Weiss nicht, was ich essen soll, bin over- oder underdressed und mir ist kalt. «Ich gehe mal rauchen», sage ich betont lässig und schleiche mich hinter den anderen durch.
«Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.»
Draussen stehe ich mit dem Rücken zum Restaurant, schaue auf den Kiesplatz und kann nicht atmen. Als hätte ich vergessen, wie das geht.
«Mein Vater, mein Vater…»
Und weiter? Mein Skill hat einen grossen Schwachpunkt: Werde ich panisch, kann ich mich nicht mehr an das Gedicht erinnern. Irgendeine Verbindung im Gehirn ist dann gekappt. So hat es mir jedenfalls mein Psychiater mal erklärt.
«Mein Vater, mein Vater…»
Die Atemzüge immer kürzer, das Kies knirscht unter meinen Füssen, die Gedanken rasen. Ich gehe meine Optionen durch:
- Wegrennen.
- Reingehen und alles überspielen.
- Reingehen und sagen, was los ist.
- Auf die Toilette gehen.
4.
«und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?»
Bevor ich die Schwelle des Restaurants übertrete, merke ich, wie dumm ich bin. Ich weiss nicht, wo die Toilette ist. Und danach fragen kann ich auch nicht.
«Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind…»
«Nicht weinen», denke ich, «sonst sehen alle, dass du ein Problem hast.» In mir macht alles zu, ich japse nach Luft und denke gleichzeitig, wie peinlich ich doch bin. Wie unglaublich peinlich und nutzlos und undankbar. Und dramatisch. Himmel, wie dramatisch!
«Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind…»
Die Tränen rinnen einfach aus meinen Augen, ich kann nichts tun. Fuck. «Hör auf zu flennen», will ich schreien, wenn ich denn Luft bekäme. Ich will mich ohrfeigen, aber meine Hände sind aus Eis.
«Sei ruhig, bleibe…»
Verdammter Erlkönig. Verdammtes Italien, beschissenes Ich. Wieder kriege ich es nicht hin. Wofür mache ich Therapie, wenn ich ohne Anlass eine Panikattacke kriege? Scheisse, ich muss wieder rein. Sonst kommt das Essen und ich bin nicht da. Ich wische mir mit den Ärmeln meiner neuen Jeansjacke die Tränen ab.
«In dürren Blättern säuselt der Wind.»
Ich betrete den Raum. Alle starren mich an. Dass das nicht möglich ist, weil die meisten mit dem Rücken zum Eingang sitzen, ist mir nicht klar. Trotzdem fühle ich Blicke, höre förmlich ihre hämischen Gedanken: «Was ist denn mit ihr?» «Und so eine hat er sich ausgesucht? Naja, ich weiss ja nicht.» «Hat er sich eine Verrückte angelacht, sieh an.» Mein Freund bemerkt mich. «Geht’s dir nicht gut?» Kopfschütteln. «Willst du schnell rausgehen?» Nicken.
«Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen…»
Er führt mich raus. Ich weine. Kann vor lauter Tränen und Rotze und Schluchzern nicht sagen, was ist. Erst nach einer Ewigkeit stottere ich: «Ich. Kann. Das. Einfach. Nicht. So. Gut.» Er nickt. Und nimmt mich in den Arm. Ich flenne sein Poloshirt voll, atme stossweise. Er: «Wir können gehen, es ist kein Problem.» Ich: Kopfschütteln.
«dich warten schön…»
Zwei Zigaretten und endloses, beruhigendes Gemurmel später geht’s langsam. Er fragt für mich nach der Toilette, wo ich in den Spiegel schaue. Nichts. Ich sehe aus wie immer.
«Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.»
Als ich mich wieder setze, sind alle in Gespräche vertieft. Das waren sie vorher schon. Mein Kopf hat mir nur was vorgespielt. Mal wieder.
«Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düsteren Ort?»
Mein Weinglas ist gefüllt. Sein Vater prostet mir zu.
«Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.»
Ich lächle. Und ich atme. Und ich trinke.