Mein Anker

Mein Anker

«Hier», sagst du und nimmst entschlossen meinen Arm, «damit du mich nicht vergisst.» Ganz sanft fühlt sich deine Hand auf meiner an. Du bindest mir das schwarze Armband um, der Anhänger ein filigraner Anker aus Silber. «Ich habe das mal von meiner Mutter bekommen.»

Als ich heute durch meine Kontakte gescrollt bin und deinen Namen las, dachte ich an das Armband. Und ich dachte an dich. Sofort war ich wieder im düsteren Raucherraum der Klinik. Wieder sass ich in meinem Pyjama und mega-peinlichen Faultierpantoffeln neben dir. Und wieder redeten wir. Über unsere Krankheiten und den Mitpatienten, der während der Gruppentherapie sehr laut gerülpst hatte. Und ich tat etwas, was ich seit Monaten nicht mehr getan hatte: Lachen. Ganz laut und heiser und sicher auch schrill.

Ich denke oft an dich. Und immer höre ich dein: «Du darfst nicht sterben. Dich braucht es hier». Nie zuvor und nie danach hat mir das jemand gesagt. Aus deinem Mund klang es allgemeingültig. So, als müsse ich das jetzt einfach hinnehmen und weitermachen. Ich habe kein einziges Wort gesagt, bevor du die Akutstation betreten hast. Und danach konnte ich irgendwie nicht mehr mit dem Reden aufhören. Ich habe alles erzählt. Und du auch. Später gingen wir zusammen zu den Pflegerinnen, um sie zu fragen, ob du in meinem Zimmer schlafen darfst. Ich habe mich gefühlt, wie damals als Teenager, als ich meine Mutter schüchtern darum bat, meine beste Freundin bei mir übernachten zu lassen.

Du bist eingezogen und es gab kein Halten mehr. Wir redeten und lachten und weinten. Wir rannten Hand in Hand zum kleinen Hofladen um die Ecke und kauften Gesichtsmasken. Zwischen Ergotherapie und Achtsamkeitsgruppe schauten wir Trash-TV und hörten schlechte Musik. Wenn ich nachmittags so tat, als würde ich schlafen, hast du dich auf mein Bett gesetzt. Es war wahnsinnig nervig. Und wahnsinnig wichtig. Wärst du nicht gewesen, ich würde da vermutlich heute noch liegen.

Ganz viel Liebe. Nicht nur für diesen Song.

Aber ich sitze hier und schreibe diesen Text. Ich sage immer, dass ich das den Therapien und Medikamenten zu verdanken habe. Aber weisst du was? Ohne dich hätte ich das nicht geschafft. Gedanklich hatte ich meine Koffer schon gepackt, um wieder heimzufahren. Und dann: Auftritt Du. Du bist in den Raucherraum gestürmt, hast meine Hand geschüttelt und «Hallo» gesagt. Das war alles, was ich gebraucht habe. Du warst alles, was ich gebraucht habe.

Wir haben uns ewig nicht gesprochen. Aber ich will, dass du weisst, dass ich dich nicht vergessen habe. Deine rot-violetten Haare und deine rauchig-schöne Stimme. Ich könnte dich niemals vergessen. Wir trafen uns zu einer Zeit, in der ich dich am meisten gebraucht habe. Und ich rede mir ein, dass es dir genauso ging.