Hasen im Kinderwagen

Hasen im Kinderwagen

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Ich fand dich seltsam. Du warst die schrullige Tante, dessen Essen man mit aufgesetztem Lächeln hinunterwürgte. Echt war es nur bei den Schneemännern aus Cornet, die du immer gezaubert hast. Die waren toll! Den Geruch der Waschküche, wo die Tiefkühltruhe verheissungsvoll herumstand, habe ich heute noch in der Nase. Den deines Parfüms auch. Bei deinen viel zu festen Umarmungen stieg der penetrante Alte-Frau-Geruch in meinen Kopf, blieb stecken. Irgendwo zwischen wirren Gedanken und ungeweinten Tränen. Und dann deine Küsse. Bah. Viel zu feucht, viel zu fest. Bevor wir zu dir fuhren, stritten meine Schwestern und ich darum, wer die Quarktorte tragen darf. Denn das war die einzige Möglichkeit, dir zu entkommen.

Hätte ich gewusst, wie das hier endet, bei Gott, ich hätte die Tupperware in die Ecke geschmissen, den Braten samt Fettadern in mich hineingeschaufelt, dich dabei breit (und ehrlich!) angelächelt und noch viel fester gedrückt, als du es mit deinen zierlichen Armen je fertiggebracht hättest! Aber von den Pillen im Badezimmerschrank erfuhr ich erst Jahre später.

Als mich die Ärzte fragten, ob es in meiner Familie Fälle von psychischen Erkrankungen gäbe, sah ich, wie meine Mutter den Mund aufmachte. In Zeitlupentempo formten sich ihre Lippen. Erst ein N, dann ein E, dann ein… Aber ich war schneller. «Ja», sagte ich viel zu laut in das kahle Untersuchungszimmer hinein, «meine Tante». In meinem Kopf hallten die Worte im Raum wider. Sprangen von der Decke «sie hat» zu Boden «Selbstmord» zu den Wänden und wieder zurück «meine Tante, sie hat…». Erst als sich die Wortfetzen auflösten, schob ich kleinlaut «also, nicht direkt mit mir verwandt, angeheiratet» hinterher. Die Ärzte: gelangweilt. Meine Mutter: überrascht bis fassungslos. Mein Vater: stumm und ernst. Klar, für meine Krankengeschichte war das nicht relevant. Aber ich fand den Gedanken, dich zu verleugnen, unerträglich. Du hattest Depressionen und du gehörtest zur Familie, ergo gab es Fälle von Depressionen in der Familie. Ich wollte einfach, dass man dich, wenigstens dieses eine Mal, nicht vergisst.

Dieses Lied habe ich dir heimlich gewidmet. Heute kann ich es nicht mehr hören (ohne zu weinen).

Ich denke oft an dich. An die Beerdigung mit dem unerträglichen Schlagersong. Das penetrante «Schlaf ich in deinen Armen ein» des Sängers. Die Gespräche am Leichenmahl «nei, s isch Schwinigs, kei Kalb…». Mann, war das abgefuckt. Wie wir taten, als träfe man sich hier zum gemütlichen Plausch und nicht, um deinen Sarg in der feuchten Erde zu versenken. Ich weiss, ich weiss, Urnenwand und so, was solls. Ich fand es unerträglich, dass alle krampfhaft versuchten, die Stille mit ihrer unwichtigen Scheisse zu füllen. Dabei hätte man doch über dich sprechen sollen. Über die kleine Katze, die du so verehrt hast. Die Hasen im Stall, alle schwarz, alle nanntest du sie «Banditos», die du regelmässig spazieren fuhrst. In einem alten, klapprigen Kinderwagen. In einem Kinderwagen, verdammt! War mir das peinlich, als wir so zum Sonntagsspaziergang aufbrachen, die dümmlichen Blicke der Nachbarn im Rücken.

Es tut mir leid. Dass ich mich für dich geschämt, mich vor dir geekelt habe. Es tut mir leid, dass du mit der ganzen Scheisse alleine warst. Ich habe mir oft vorgestellt, wie du mich in der Psychiatrie besuchst. Ich würde dich gerne noch ein einziges Mal sehen. Aber es ist zu spät. Du bist tot und ich weiss das und trotzdem passiert es jedes Mal in meinem Kopf, wenn ich eine Frau mit halblangem, blond-grauem Haar sehe. Film ab.

Morgen. Nebel. Tau auf den zurechtgestutzten Gräsern. Eine Frau, ihres biederen Lebens überdrüssig. Blickt zu den Nachbarn, diesen verabscheuungswürdigen Geschöpfen, krault ihre heissgeliebte Katze. Ein letztes Mal. Dann holt sie Streichhölzer aus der Garage, der Kinderwagen, vollgesogen mit Benzin, brennt sofort lichterloh. In einem Sommerkleid, eigentlich viel zu leicht für den kühlen Tag, auf dem Kopf ein Hut. In der Hand ein Rollkoffer (Louis Vuitton), läuft sie los. Immer weiter, scheinbar endlos der Weg zum Busbahnhof, dann in den Zug. Immer weiter, es kann gar nicht weit genug entfernt sein von der stinkenden Einöde, aus der sie kommt. Erst, als der Zug die Grenze überquert und mit ihm ihr Körper, atmet sie wieder. Setzt den Hut ab, legt die Füsse auf den Sitz. Wie unartig! Ein kehliges Lachen, ein Blinzeln im Sonnenlicht. Sie schliesst die Augen und denkt an Paris. Oder Athen. Oder Rom.

Hoff, du bist angekommen.